Edition 5 Erstfeld

Wandern auf doppeltem Boden (fractal memory)

Ob das Isental hinauf oder den Gotthard hinunter: das Sich-Bewegen in der Natur, bzw. die Naturbetrachtung, inspirierte Generationen von Künstlern in unterschiedlichste Richtungen: zu expressiven und impressionistischen, zu pathetischen und trivialen Äußerungen. Analytische und konzeptionelle Überlegungen zeugen von Einfluss und Anregung der Natur auf das Denken und in Folge auf das Schaffen.

Der oft konstruierte Gegensatz von Natur und Kunst konvergiert „natürlich“ in der Thematik von natura naturata, der geschaffenen Natur und natura naturans, der schaffenden Natur.[1] Wobei der Begriff der natura naturata, auch Inbegriff der Geschöpfe, respektive der Welt philosophisch betrachtet resistenter ist, als jener der schöpferischen Natur, der natura naturans, der ursprünglich mit einem schöpfenden Gott gleichgesetzt wurde. Wenn man diesen natur naturans – Begriff aber dynamisch betrachtet und mit der schöpferischen Kraft der Menschen (der Künstler) gleichsetzt, so kann auf diese ordnende Überposition gut verzichtet werden. Die Ordnung kann dem Chaos weichen – und einer chaotischen Dynamik Platz machen.

Ordnung und Chaos und der erneute Versuch einer Ordnung:

Benoit Mandelbrot machte 1975 eine folgenreiche Bemerkung indem er feststellte, dass die englische Küste immer länger werde, je genauer man die Küste betrachte. Würde man jede Bucht, jede Felsformationen und jeden einzelnen Stein vermessen, so würde sie unendlich lange werden. Die bisherige Umschreibung mit geometrischen Figuren sei also viel zu ungenau und müsse durch eine fraktale Dimension (lat. fractus, gebrochen) ersetzt werden.

Fazit: „Wolken sind keine Kugeln und Berge keine Kegel“.[2] Die ganze Natur ist fraktal aufgebaut - und führt somit ein Doppelleben. Nichts erscheint so, wie es ist und nichts ist so, wie es erscheint. Wenn man sich dieser schiefen Ebene bewusst ist, eröffnen sich mit dem Wandern in der Natur ungeahnte Perspektiven – und der Abstieg in die Schöllenenschlucht wird zum unvergesslichen Teufelsritt.

Elisabeth Priedl

[1]
Die Begriffe werden hier ganz allgemein verwendet, ohne auf die Komplexität der Thematik eingehen zu können, die bei Augustinus beginnt (De civit. Die V,9), sich in der Renaissance fortsetzt und in Schellings Naturphilosophie neue Aspekte gewinnt.
[2]
Benoit Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, Basel 1987 (Erstausgabe: The fractal Geometry of Nature, New York, 1983)